Beide Dokumente kann man als Meilensteine der Versöhnung zwischen Deutschen und Tschechen bezeichnen und als Beispiel christlicher Aussöhnungsbemühungen. Darüber spricht Volker Niggewöhner mit Bernd Posselt (CSU), Vorsitzender und Sprecher der Sudetendeutschen Landsmannschaft.
Die Vertreibung der Deutschen war eine tiefgreifende Menschenrechtsverletzung, deshalb habe ich mich mein Leben lang mit Menschenrechten beschäftigt und tue es weiterhin. Meine Eltern haben uns Kinder dankenswerterweise anti-nationalistisch erzogen. Wir haben zwei Prägungen, die wir unseren Eltern verdanken: Die eine ist unser katholischer Glaube und die andere ist die tiefe Ablehnung jedes Nationalismus.
Die Eltern haben ihr Lebensschicksal nicht abgeladen bei den anderen Nationen. Ich habe nie ein böses Wort über „die Tschechen“ gehört, aber ich habe viele böse Worte über „den Nationalismus“ gehört. Unsere Eltern haben gesagt: „Der Nationalismus hat unsere Familien zerstört, entwurzelt, vertrieben.“ Auch der Nationalismus unserer eigenen Volksgruppe wurde aufgearbeitet. Aus diesem Grunde sind wir auch alle glühende Europäer geworden.
Denn die große Masse der Sudetendeutschen wurde – wie auch meine Familie – erst im Jahr 1946 vertrieben, als man im Westen schon längst wiederaufgebaut hat. Es handelte sich also nicht um einen spontanen Racheakt, es war eine ethnische Säuberung, um einen ethnisch homogenen Nationalstaat herzustellen, um Menschen zu vertreiben, weil sie eine andere Sprache haben.
Auch auf sudetendeutscher Seite waren die Menschen zutiefst verzweifelt und zum Teil auch voller Wut und Rachegedanken. Und deshalb war es eine unglaubliche Leistung der damals Verantwortlichen in den Vertriebenenverbänden, die Charta der Heimatvertriebenen zu formulieren und bei einer Massenkundgebung in Bad Cannstatt abstimmen und dann unterzeichnen zu lassen durch die Vertreter aller Landsmannschaften, mit der Vision eines gemeinsamen Europa und mit dem berühmten Verzicht auf Rache und Vergeltung.
Aber wenn man die Welt heute sieht, wo überall nach wie vor Gewalt mit Gegengewalt beantwortet wird und wenn man weiß, was die Menschen damals mitgemacht haben, dann war diese Erklärung: Wir verzichten feierlich auf Rache und Vergeltung und wollen gemeinsam, übrigens „in Verantwortung vor Gott“, wie die Formulierung hieß, ein gemeinsames Europa aufbauen mit den Völkern, in deren Namen wir vertrieben wurden, dann war das ein historisch gewaltiger Schritt.
Sie erwähnen die Verantwortung vor Gott. Welche Rolle haben die Kirchen bei diesen Versöhnungsbemühungen gespielt?
Die Kirchen haben eine gewaltige Rolle damals gespielt, und zwar nicht nur bei der Versöhnung und Verständigung, sondern auch bei der seelischen Heilung und Wiederbeheimatung der Vertriebenen. Mein Vater hat mir erzählt, dass es sudetendeutsche Geistliche, wie zum Beispiel die beiden Prinzen Löwenstein, waren, die entscheidend dazu beigetragen haben, dass er sich wieder im Glauben festigen konnte. Und das haben auch hunderte und tausende andere heimatvertriebene Priester in besonderer Weise getan.
Pater Werenfried hat nicht nur großartige humanitäre und seelsorgerische Leistungen vollbracht, sondern er hat richtig zugeschlagen, im positiven Sinne. Er hieß ja der „Speckpater“. Das kam daher, dass er zu seinen flämischen Bauern, die gerade entsetzlich unter den Nationalsozialisten gelitten hatten, gesagt hat: „Jetzt geht jeder von euch nach Hause, holt das größte Stück Speck, das er hat, und gibt es seinen bisherigen Feinden, damit sie nicht verhungern“. Also ein Akt der tätigen Nächstenliebe, der auch eine gewaltige symbolische und spirituelle Bedeutung hat.
Pater Werenfried war ein überragender Europäer und ein Motor der Versöhnung, nicht nur zwischen Sudetendeutschen und den anderen Nationalitäten, sondern auch zwischen Deutschland und den anderen europäischen Völkern. Und auch der Vertriebenen mit sich selbst. Er war ein großer Wundheiler.
Wird die Leistung der Aufnahme und Integration der Vertriebenen in die westdeutsche Gesellschaft unterschätzt? Die Not war auch hier groß …
Die war sehr groß. Heute beschönigt man im Nachhinein diese Integrationsleistung, alles wird sehr harmonisch darstellt. Aber logischerweise war das Ganze sehr schwierig. Es kamen immerhin aus dem Osten insgesamt 12 bis 14 Millionen Menschen, darunter allein über drei Millionen Sudetendeutsche, die in vielem kulturell anders geprägt waren.
So kamen oft lauter katholische Sudetendeutsche in rein evangelische Gegenden in Franken. In manche Dörfer kamen mehr Vertriebene, als die Dörfer Einwohner hatten, mit Wirkungen bis heute. Andererseits kamen in katholische Gegenden zum Beispiel im Rheinland dann evangelische Vertriebene aus Ostpreußen und Niederschlesien. Das sind gewaltige Veränderungen gewesen, die die Bevölkerung im Westen auch getroffen hat, die ja selbst nichts hatte, die gehungert hat, die verunsichert war, die zerbombt war.
In manchen Dörfern hat man unabhängig von der Konfession zur Tochter gesagt.: „Heirate ja keinen Flüchtling“, Allein die Bezeichnung „Flüchtlinge“ hat die Generation meiner Großeltern als Beleidigung empfunden. Sie haben gesagt: „Wir sind ja nicht geflohen, wir sind ein Jahr nach Kriegsende in Viehwagen gepfercht und mit 30 Kilo Gepäck außer Landes geschafft worden. Das ist doch keine Flucht!“
Aber die Leute wurden natürlich als Flüchtlinge bezeichnet. Man hat sie gefragt: „Was habt ihr denn angestellt? Wenn ihr nichts angestellt hättet, hättet ihr ja zu Hause bleiben können“. Also, es war am Anfang schon sehr schwierig, es gab Spannungen, aber es gab auch großartige Zeichen der tätigen Nächstenliebe und der Aufnahmebereitschaft. Und da hat unsere christliche Welt, also ich sage jetzt wirklich: evangelisch und katholisch, Gewaltiges geleistet.
Deshalb sind diese Exil-Tschechen in der Heimat von den seit 1948 regierenden Kommunisten auch als Kollaborateure beschimpft worden. Das aber zu Unrecht, denn der bekannteste Vertreter dieser Exilpolitiker, General Lev Prchala, war ein tapferer Anti-Nationalsozialist, der gegen Hitler kämpfen wollte, während z.B. Edvard Beneš 1938 geflohen ist. Und dieser General Prchala hat sich mit den Vertretern der Sudetendeutschen im zerstörten Wiesbaden zusammengesetzt und ein Abkommen geschlossen, das die Weichen gestellt hat für die Charta am nächsten Tag.
Es hat also neben den Kirchen auch die Politik eine bedeutende Rolle gespielt. Und ich finde es bis heute sehr eindrucksvoll, dass der erste Sprecher der Sudetendeutschen Volksgruppe nach der Vertreibung, Rudolf Lodgman von Auen, Seite an Seite mit General Prchala auf dem Münchner Waldfriedhof seine letzte Ruhestätte gefunden hat. Also als Symbol der Aussöhnung über den Tod hinaus.
Haben diese beiden Verträge auch in der Zeit des „Kalten Krieges“ eine Bedeutung gehabt bis zur politischen Wende?
Selbstverständlich. Sie waren erstens die Grundlage für Beziehungen zum Exil, die sehr intensiv waren. 1968 zum Beispiel, nach dem Einmarsch des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei, kamen hunderttausende tschechoslowakische Flüchtlinge in den Westen. Damals hat die Sudetendeutsche Landsmannschaft ihre Bildungsstätten geschlossen und dort die Flüchtlinge aufgenommen. Und ich bin in München sozusagen in einem Milieu verwurzelt, wo es jahrzehntelange Beziehungen zwischen Münchner Sudetendeutschen und Münchner Tschechen gibt. Das hätte es ohne dieses Wiesbadener Abkommen und die Charta nie geben können.
Oder zum Beispiel auch der Kontakt zur Untergrundkirche. Die Ackermann-Gemeinde, also die katholische Gesinnungsgemeinschaft der Sudetendeutschen, aber auch die Landsmannschaft und die Paneuropa-Union und viele, viele andere Organisationen haben jahrzehntelang für die Untergrundkirche über den Eisernen Vorhang hinweg geschmuggelt: Bibeln, Manuskripte, Informationen, Druckmaschinen.
Umgekehrt haben wir verbotene Werke von Untergrundautoren herübergebracht. Wir waren mit der Bürgerrechtsbewegung eng verbunden, mit den christlichen Gemeinschaften, mit den jüdischen Gemeinschaften, die eine ganz große Rolle spielen. In der Aussöhnung mit der tschechischen Republik sind es die Juden, die sich in besonderer Weise einsetzen und übrigens auch die Roma, weil auch sie unter dem Beneš-Nationalismus in der Tschechoslowakei gelitten und daher die Verbindung mit uns gesucht haben.
Heute befinden wir uns in einem breiten Verständigungsprozess. Ich komme jetzt gerade wieder aus Böhmen, wo ich feierlich im Rathaus von Eger vom Oberbürgermeister empfangen wurde. Natürlich gibt es im Vorfeld immer noch Demonstrationen von rechtsextremen und linksextremen Kreisen gegen mich, die übrigens völlig zusammenspielen und dann auch noch eng mit Russland und China kooperieren, und die mich als „Teufel“ bezeichnen. Und dann hat der Oberbürgermeister von Eger ein ironisches Post herausgeschickt: „Ich habe heute den Teufel empfangen“. Und ergänzt: „Wenn alle unser Land so lieben würden wie dieser Teufel, stünde unser Land besser da.“
Im Moment ist in der Tschechischen Republik, würde ich sagen, die Mehrheit der Parteien im Parlament europäisch orientiert, sie ist für den Dialog mit den Sudetendeutschen auch durchaus offen, aber ich erlebe es immer wieder, dass ein Gesprächspartner sagt: „Naja, treffen wir uns lieber heimlich, sonst habe ich Ärger oder werde nicht wiedergewählt“. Also, es ist noch längst nicht alles Gold, was glänzt. Aber man sieht an diesen Beispielen, dass es einen breiten Verständigungs- und Versöhnungsprozess gibt, der noch im vollen Gange ist, der auch noch sehr, sehr viel leisten muss. Da ist noch sehr vieles zu tun, aber die Grundlage, die wurde gelegt durch das Wiesbadener Abkommen und durch die Charta.
Der Einsatz für Minderheitenrechte ist Schwerpunkt Ihrer politischen Arbeit. Sie haben in diesem Zusammenhang die Europäische Union einmal als „minderheitenblind“ bezeichnet. Wo macht die EU hier Fehler?
Man muss zunächst einmal sehen, dass die verschiedenen traditionellen Volksgruppen – also nicht Zuwanderer oder andere Minderheiten, die natürlich auch ihre Rechte haben und unterstützt werden müssen –, sondern die seit Jahrhunderten traditionell ansässigen Minderheiten wie die Sorben in Sachsen und Brandenburg, die Dänen in Schleswig-Holstein, die Südtiroler in Italien, die Katalanen in Spanien usw., die keinen eigenen Staat haben, zusammengenommen mehr Menschen ausmachen als Frankreich Einwohner hat. Sie sind sozusagen zusammengezählt nach Deutschland der zweitgrößte EU-Mitgliedstaat.
Aber da sich die EU aus Nationalstaaten zusammensetzt, haben diese Volksgruppen und Minderheiten nie eine Stimme gehabt. Sie wurden auch gar nicht anerkannt. Die haben in den Verträgen einfach nicht existiert. Es gab die Bürger der einzelnen Nationalstaaten, die Nationalstaaten und die europäische Ebene. Geändert hat sich das erst mit der ersten Direktwahl des Europaparlaments nach 1979, weil es da plötzlich einen baskischen Abgeordneten gab, einen Südtiroler Abgeordneten etc. Im Ministerrat sitzen nur Frankreich, Deutschland, Italien, im Europaparlament sitzt halt auch der Baske und der Sorbe und so weiter. Und deshalb wurde das Europaparlament zum Motor eines europäischen Volksgruppen- und Minderheitenrechts.
Da haben wir im kulturellen Bereich bereits große Fortschritte gemacht. Es werden die Regional- und Minderheitensprachen gefördert, es gibt auch in der anderen großen Organisation, die größer ist als die EU, beim Europarat, aber durchaus auf Betreiben des Europaparlaments, die sogenannte Charta der Regional- und Minderheitensprachen, die ein ganz wichtiges Instrument ist, die auch vom Europaparlament in der EU immer wieder angemahnt und zum Maßstab genommen wird.
Und ganz wichtig: Wir haben im Europaparlament eine interfraktionelle Arbeitsgruppe gegründet für traditionell ansässige Volksgruppen und Minderheiten, die ich in den 90er Jahren geleitet habe, und wo ich heute der Ehrenvorsitzende bin und auch noch jeden Monat an den Sitzungen teilnehme. Und wir haben jetzt gerade zusammen mit der Organisation aller Minderheiten, das ist die Föderalistische Union europäischer Volksgruppen oder Nationalitäten, zusammen ein Bürgerbegehren veranstaltet mit dem Namen „Minority SafePack“ veranstaltet.
Hierbei geht es um die Minderheitenrechte und deren Verankerung, die bisher noch schwach ist. Sie erfolgt in den EU-Verträgen bisher in zwei Punkten: nämlich durch das Verbot der Diskriminierung, also das Nichtdiskriminierungsgebot, und sie erfolgt durch die Unterstützung oder Absicherung der kulturellen Vielfalt. Das ist auch ein wichtiger Punkt. Aber einen richtigen Volksgruppen- und Minderheitenschutz gibt es noch nicht und deshalb kämpfen wir dafür, dass das in die künftigen europäischen Verträge oder wenn möglich in eine zukünftige europäische Verfassung hineingeschrieben wird. Das ist aber immer noch recht schwierig, weil manche Länder wie Frankreich sich mit dem Thema natürlich sehr schwer tun.
Unsere Sudetendeutsche Jugend hat zum Beispiel eine Partnerorganisation in der Tschechischen Republik, aber nicht aus den Reihen der deutschen Minderheit, sondern aus den Reihen der tschechischen Jugend. Es gibt also eine rein tschechische Partnerorganisation der Sudetendeutschen Jugend, die „Sojka“ heißt. Die Gruppen treffen sich mehrfach jährlich und haben z. B. einen gemeinsamen Zeltplatz in der Oberpfalz. Sie machen gemeinsame Seminare, Reisen, da geschieht sehr, sehr viel. Und dann gibt es über die organisierte Jugend hinaus immer mehr Aktivitäten an Schulen.
Zum Beispiel hat jetzt das Gymnasium von Pfaffenhofen an der Ilm unter der Leitung eines Lehrers, der nachgeborener Sudetendeutscher ist, im nordböhmischen Tetschen (Děčín), mit dem dortigen Gymnasium ein dreisprachiges Musical über das Thema Geschichte vor der Vertreibung, Nationalsozialismus, Vertreibung und Versöhnung entwickelt und aufgeführt. Das Musical ist in Tschechisch, Deutsch und Englisch und wurde aufgeführt in Pfaffenhofen im Theater, in Tetschen im Stadttheater und in einem kleinen Ort namens Tyssa (Tisá). Und die Jugendlichen machen weiter, obwohl sie inzwischen Abitur gemacht haben.
Also, da gibt es sehr, sehr viel, und ich bin sehr zuversichtlich, was die Zukunft des Themas betrifft. Ich bin oft an Schulen in Deutschland und der Tschechischen Republik und bin beeindruckt, wie sehr die jungen Leute sich dafür interessieren, wenn man ihnen das Thema vernünftig näherbringt. Aber automatisch geschieht das natürlich nicht. Von nichts kommt nichts.
Haben Sie denn noch einen Wunsch oder einen Traum für die Zukunft; etwas, das Sie unbedingt noch erleben möchten?
Ich möchte noch sehr viel erleben, aber ich möchte weniger erleben als gestalten und machen. Ich hoffe, dass ich noch viele Jahrzehnte für die Versöhnung und für die Einigung Europas kämpfen kann, und das werde ich auch bis zum letzten Atemzug tun.
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