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Venezuela: „Die Menschen sind emotional verwaist”

Venezuela: „Die Menschen sind emotional verwaist”

Interview mit dem Erzbischof von Caracas

16.07.2019 aktuelles
Venezuela befindet sich in einer kriegsähnlichen Situation, ist Baltazar Enrique Kardinal Porras Cardozo, Erzbischof der Hauptstadt Caracas überzeugt. Zum Währungsverfall, dem allgegenwärtigen Mangel an Lebensmitteln, Medikamenten und nahezu allen Dingen des täglichen Bedarfs kommen noch schwere Repressionen, die das Regime seine Gegner spüren lässt.

 

Auch die Kirche steht verschärft im Visier. Obwohl die Ressourcen kaum reichen, setzen sich Seelsorger und freiwillige Helfer für die notleidende Bevölkerung ein.

Vertreter von KIRCHE IN NOT haben Anfang Juli das Land besucht. Unser Hilfswerk unterstützt seit langem die kirchliche Sozial- und Pastoralarbeit in Venezuela. Pressereferentin Maria Lozano hat mit Kardinal Porras gesprochen.

Venezolanische Ordensfrauen verteilen belegte Brote an bedürftige Kinder.
MARIA LOZANO: Venezuela befindet sich zwar nicht im Krieg, aber de facto lebt es in einem Kriegszustand. Was halten Sie von dieser Einschätzung?
BALTAZAR ENRIQUE KARDINAL PORRAS CARDOZO:
 Wir befinden uns in einer beispiellosen Situation. Sie ist zwar nicht das Ergebnis eines Krieges, hat aber ähnliche Folgen. Das Regime, das Venezuela zurzeit regiert, hat das Land zerstört und einen sozialen Konflikt ausgelöst, der schlimmer wird.

 

Viele Menschen verlassen das Land

Hinzu kommt die Auswanderung vieler Venezolaner in einem noch nie dagewesenen Ausmaß. Die Menschen verlassen das Land wegen ihrer Armut, ihrer politischen Ideen oder wegen der herrschenden Unterdrückung. Die Wirtschaft ist praktisch zerstört, und es gibt keine Rechtssicherheit.

Dazu kommt die Arbeitslosigkeit. Die Menschen haben keine Chance, den Mindestbedarf für ihre Familien zu erwirtschaften. All das bezeichnen Fachleute als Kriegswirtschaft.

- Erzbischof Baltazar Enrique Kardinal Porras Cardozo,
Regierung und Opposition haben sich im Juni in Oslo an einen Tisch gesetzt – ohne greifbare Ergebnisse. Demnächst sollen die Gespräche auf Barbados fortgesetzt werden. Die Skepsis ist groß. Was ist Ihre Einschätzung?
Die Regierung hat in den vergangenen 20 Jahren immer wieder zum Dialog aufgerufen, wenn sie in Schwierigkeiten war. Aber mit diesen Aufrufen wollte sie lediglich ihre Macht verlängern. Daher misstraut ein großer Teil der Bevölkerung dem Dialog. Trotzdem bietet er die Chance auszuloten, ob es einen Willen zum Wiederaufbau der Demokratie gibt.

 

Es macht mir große Sorgen, dass seit der Ausrufung von Juan Guaidó zum Interimspräsidenten Anfang des Jahres die Zahl der Verhafteten, Gefolterten, Toten und Verschwundenen zugenommen hat. An diesen Aktionen sind nicht nur hochrangige Militärs beteiligt, sondern auch Teile der Bevölkerung.

Baltazar Enrique Kardinal Porras Cardozo, Erzbischof von Caracas/Venezuela.
Vertreter von KIRCHE IN NOT konnten bei ihrem Besuch in Venezuela feststellen, dass die Menschen vielfach kirchliche Einrichtungen aufsuchen. Kann man sagen, dass die Kirche in Venezuela für viele Menschen die letzte Hoffnung ist?
Viele öffentliche und private Einrichtungen wurden zerstört. Die Kirche ist die einzige Institution, die unversehrt geblieben ist. Das liegt an unserer Nähe zu den Menschen und an unserer Präsenz in allen Bereichen.

 

Darüber hinaus hat die Kirche den Mut, auf die Missstände dieses Regimes hinzuweisen. Viele öffentliche Stimmen äußern sich nicht mehr, weil sie Angst haben. Die Regierung hat viele Unternehmer angegriffen oder kritische Medien bedroht und geschlossen.

Baltazar Enrique Kardinal Porras Cardozo, Erzbischof von Caracas, verteilt Suppe an.
Aufgrund ihrer deutlichen Haltung ist aber auch die Kirche Drohungen und Druck ausgesetzt. Kann man sagen, dass die venezolanische Kirche verfolgt wird?

Man kann nicht sagen, dass sie nicht verfolgt wird. Im Bildungsbereich gibt es beispielsweise viele Einschränkungen für katholische Schulen.

 

Kirche leidet unter subtilem Druck

Es scheint, als seien Hindernisse errichtet worden, damit die Kirche am Ende selbst ihre Schulen schließt. Seit Jahren leiden wir unter subtilem Druck, verbalen Drohungen und Schikanen gegen die karitativen Einrichtungen. Pfarreien werden von der Regierung, von kommunalen Räten und von regierungsfreundlichen Gruppen, den sogenannten „Colectivos“, angegriffen.

In den ärmeren Stadtvierteln von Caracas zum Beispiel stehen diese „Colectivos“ oft vor den Kirchentüren. Sie hören genau zu, was der Priester in der Predigt sagt. Wenn ihnen das nicht gefällt, beginnen die Drohungen.

Menschen strömen über die Grenzbrücke von Venezuela nach Kolumbien.
Was würde in Venezuela passieren, wenn die katholische Kirche ihr Engagement nicht fortsetzen könnte?
Für viele Menschen würde sich die Situation noch weiter verschlechtern. Weil so viele Menschen auswandern, sind wir Daheimgebliebenen emotional verwaist. Die Familien und das soziale Umfeld sind verschwunden. Es fehlt an Gemeinschaft.

 

Wir leiden auch darunter, dass es vielen von den Auswanderern weiterhin nicht gut geht. Das ist sehr traurig.

- Erzbischof Baltazar Enrique Kardinal Porras Cardozo
Was ist Ihre Botschaft an die Menschen, die die Arbeit der Kirche in Venezuela durch Organisationen wie KIRCHE IN NOT unterstützen?
Die Nähe vieler Institutionen ist für uns ein großer Trost. Insbesondere bin ich KIRCHE IN NOT zutiefst dankbar, nicht nur für die materielle Hilfe, sondern auch für den „geistlichen Gleichklang“, der sich vor allem im Gebet ausdrückt.

 

Dank der Hilfe, die wir von KIRCHE IN NOT zum Beispiel durch Mess-Stipendien erhalten, werden die Nöte der Pfarreien stark gemildert. Auf diese Weise können andere Mittel zur Stärkung der Sozialarbeit eingesetzt werden, die es uns ermöglichen, den bedürftigsten Menschen zur Seite zu stehen.

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