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Ruanda: „Vergebung ist eine gottgegebene Kraft“

Ruanda: „Vergebung ist eine gottgegebene Kraft“

Die Kirche hilft bei der Resozialisierung von Häftlingen, die wegen Völkermord verurteilt wurden

05.04.2023 aktuelles
Der 7. April ist der „Internationale Tag des Gedenkens an den Völkermord von 1994 an den Tutsi in Ruanda“. 29 Jahre nach den Gewaltexzessen vom 7. April bis 15. Juli 1994 sind heute noch viele Männer inhaftiert, die zur Höchststrafe verurteilt wurden. Théogène Ngoboka, Leiter der Diözesankommission für Gerechtigkeit und Frieden in Cyangugu, ist Gefängnisseelsorger in der Haftanstalt Rusizi, in der 1300 wegen Völkermordes verurteilte Männer einsitzen.

 

KIRCHE-IN-NOT-Mitarbeiterin Agnès Sebaux hat mit ihm geprochen.

Théogène Ngoboka, Gefängnisseelsorger und Leiter der Kommission Gerechtigkeit und Frieden im Bistum Cyangugu (Ruanda).
KIRCHE IN NOT: Wie sind die heutigen Häftlinge damals verurteilt worden?
Théogène Ngoboka: Sie wurden von aus Dorfältesten gebildeten traditionellen Volksgerichten, sogenannten Gacaca-Gerichten, verurteilt. Ursprünglich ermöglichten diese Gerichte die Bereinigung von Streitigkeiten zwischen Nachbarn oder Familienmitgliedern. Es handelte sich um eine Versammlung der Dorfbewohner unter dem Vorsitz der Dorfältesten, bei der jeder um das Wort bitten durfte.

 

Diese Gacaca-Gerichte wurden wieder ins Leben gerufen, um die erforderlichen Gerichtsverfahren der über 100 000 Menschen zu beschleunigen, die beschuldigt wurden, am Völkermord beteiligt gewesen zu sein.

Die Männer, die 29 Jahre später immer noch im Gefängnis sitzen, wollten die ihnen angelasteten Taten nicht gestehen oder sie haben mehrere Verbrechen begangen und ihre Strafen wurden zusammengefasst. Manche sind auch jene, die in diesem Völkermord die Befehle erteilten.

Versöhnungsgottesdienst in einer Pfarrei in Ruanda.
Sie sind Gefängnisseelsorger in dieser Haftanstalt. Was ist Ihre Aufgabe?
Ich habe ein ständiges Besuchsrecht. Zusammen mit Freiwilligen, die in der Kommission für Gerechtigkeit und Frieden arbeiten, helfe ich jenen Häftlingen, die bald freigelassen werden, bei der Vorbereitung ihrer Entlassung. Tatsächlich ist es so, dass sie zwar gegenüber dem Gesetz ihre Strafe verbüßt haben, doch die Gesellschaft wird sie weiterhin verurteilen.

 

Wie helfen Sie diesen Menschen?
Es ist langer Prozess der Begleitung der Gefangenen und auch der Gemeinschaft, in die sie zurückkehren werden, damit sie gemeinsam den Weg der Versöhnung gehen. Wir bereiten die Häftlinge darauf vor, indem wir sie aufklären, dass es notwendig ist, dass sie um Vergebung bitten.

Wenn sie dazu bereit sind, schreiben sie an alle Menschen, die sie um Vergebung bitten wollen, einen Brief. Sie verpflichten sich dazu, ihr Verhalten zu ändern und drücken ihren Wunsch aus, harmonisch mit der Gemeinschaft zusammenzuleben. Die Leitung der Haftanstalt unterschreibt diese Briefe, um ihre Echtheit zu beglaubigen.

 

„Ein langer Prozess der Begleitung”

Die Briefe werden den überlebenden Familienangehörigen durch Priester oder die freiwilligen Helfer der entsprechenden Kirchengemeinde überbracht. Sie übernehmen es auch, die Absicht des Häftlings zu erklären. Dann entsteht ein Dialog, um die Gültigkeit der Aussagen zu überprüfen. So gibt es beispielsweise Briefe, in denen alle Informationen stehen, in anderen Briefen sind sie nicht vollständig. Die Überlebenden und Betroffenen führen andere Fakten auf. Die Kommission übernimmt es, all diese fehlenden Informationen festzuhalten und an den Häftling zurückzuschicken. Wir arbeiten als Vermittler, damit die Wahrheit ans Tageslicht kommt.

Am Marienwallfahrtsort Kibeho in Ruanda.
Und was passiert, wenn die Wahrheit ans Licht gekommen ist?
Wenn der Überlebende bestätigt, dass der Brief wirklich vollständig ist, dann wird ihm vorgeschlagen, in die Haftanstalt zu kommen, um sich mit dem Häftling auszutauschen. Es gibt jeden Monat einen Tag, an dem wir diese Besuche mit dem Sozialdienst der Haftanstalt organisieren. Wir sind dabei immer Vermittler und nehmen an diesem Treffen teil. Dabei kommen starke Gefühle hoch.

 

„Der Glaube spielt eine maßgebliche Rolle”

Die Vergebung muss von der ganzen Familie akzeptiert werden, sowohl von den Familienmitgliedern des Überlebenden als auch von den Familienmitgliedern des Häftlings. Wir organisieren Treffen mit den Überlebenden und auf der anderen Seite mit den Familien der Häftlinge. Anschließend bringen wir beide Seiten zusammen.

Die meisten Menschen sind gläubig; innerhalb dieses Prozesses der Vergebung spielt der Glaube eine maßgebliche Rolle. Wir beten und tauschen uns über Bibeltexte aus. Wir laden auch Menschen ein, die diesen Vergebungsprozess bereits hinter sich haben, damit sie von ihren Erfahrungen berichten. Das ermutigt die anderen.

Männer beten vor einer Christusstatue in Ruanda.
Das ist ein langwieriger Prozess …
Ja, deshalb beginnen wir damit drei Jahre vor der Entlassung. Auch wenn der Häftling freigelassen wurde, ist der Prozess noch nicht abgeschlossen. Wir verpflichten uns dazu, den Weg noch mindestens sechs Monate lang weiterzugehen, damit ehemalige Häftlinge und Betroffene ihre Angst überwinden können. Versöhnung geschieht nicht automatisch. Vertrauen muss aufgebaut werden.

 

Versöhnungsarbeit beginnt drei Jahre vor der Entlassung des Häftlings

Wir organisieren auch Pilgerfahrten nach Kibeho, einem Marienerscheinungsort in Ruanda, wohin wir Pfarreigruppen einladen. Jeder erzählt dann, welchen Weg er gegangen ist. Man tauscht sich aus. Jeder bestärkt sich selbst auf seinem Weg der Vergebung.

Nach sechs Monaten versucht die Kommission Gerechtigkeit und Frieden, den Stand der Versöhnung einzuschätzen. Wenn dieser Prozess erfolgreich verlaufen ist, organisiert die Kirche einen Tag der Einheit und der Versöhnung. Die ehemaligen Häftlinge gestehen in der Öffentlichkeit, was sie getan haben, und bitten um Vergebung. Auch die Betroffenen sprechen öffentlich ihre Vergebung aus.

Edouard Sinayobye, Bischof der Diözese Cyangugu (Ruanda).
Welchen Schwierigkeiten begegnen Sie dabei?
Dieses Verfahren erfordert große Anstrengungen. Auch 29 Jahre später sind die Verletzungen noch spürbar. Manche Menschen wollen nicht wieder mit den Wunden konfrontiert werden. Zahlreiche Menschen können immer noch nicht um ihre Angehörigen trauern, weil sie nicht wissen, wo sich deren Leichen befinden.

 

Nicht alle Opferfamilien zur Versöhnung bereit

Auch für den ehemaligen Häftling ist es sehr schwer. Manche sagen uns, dass es „draußen“ schlimmer als im Gefängnis ist. Sie sagen: „Meine Frau führt nun ein neues Leben, mit einem anderen Mann. Ich habe Angst, den Mitgliedern der Familie zu begegnen, deren Angehörige ich getötet habe.  Wie kann ich in die Kirche gehen, wo ich Morde begangen habe?“

Eine weitere Schwierigkeit beruht darin, dass nicht alle Mitglieder der Opferfamilie Vergebung aussprechen wollen. Es ist notwendig, den Rhythmus jedes Einzelnen zu respektieren und ihn auf diesem Weg zu begleiten.

Im Zuge unserer Arbeit begegnen uns auch Häftlinge, die zu Unrecht angeklagt und inhaftiert wurden. Es kann zum Beispiel sein, dass Häftlinge zugeben, dass sie geplündert, aber nicht getötet haben. So erhoben einige Überlebende unter dem Eindruck ihrer Gefühle oder aufgrund von Rachegelüsten falsche Anschuldigungen. Wenn jedoch das Gerichtsurteil ausgesprochen wurde, ist es schwierig, die Zeit zurückzudrehen.

Gedenkstätte an den Völkermord in Ruanda in der Stadt Nyundo.
Glauben Sie, dass dieser Versöhnungsprozess ohne die Hilfe von Gott möglich wäre?
Nein. Vergebung ist ein Wunder, ein Geschenk Gottes. Vergebung ist eine gottgegebene Kraft. Viele Menschen fragen sich immer noch, warum Gott angesichts ihres Leids schweigt. Die Antwort auf diese Frage findet sich in dem Geheimnis, das wir am Karfreitag feiern: Gott war bei seinen leidenden Kindern, seinen verfolgten Gerechten, seinen abgeschlachteten Unschuldigen.

 

Vergessen wir nicht, dass nach dem Karfreitag das Osterfest kommt, das Zeichen des Sieges des Lebens über den Tod, das Zeichen der Hoffnung auf eine bessere Zukunft in Jesus Christus.

Im Jahr 2021 wurden in der Diözese Cyangugu 154 Häftlinge begleitet und Treffen mit 98 Familien organisiert, die den Völkermord überlebt haben. KIRCHE IN NOT unterstützt die Arbeit der Nationalen Kommission für Gerechtigkeit und Frieden bei der Ausbildung von 120 Priestern und Ordensleuten in den Bereichen Trauma-Sensibilisierung, aktives Zuhören und psycho-spirituelle Begleitung zur Stärkung der Resilienz der Gemeinschaft.

Bitte unterstützen Sie die Arbeit der Kirche in Ruanda mit Ihrer Spende – online oder auf folgendes Konto:

Empfänger: KIRCHE IN NOT
LIGA Bank München

IBAN: DE63 7509 0300 0002 1520 02
BIC: GENODEF1M05

Verwendungszweck: Ruanda

TV-Tipp:
Ein Interview mit Edouard Sinayobye, Bischof der Diözese Cyangugu (Ruanda), wird ab 8. Mai bei Bibel TV, K-TV und EWTN in der Reihe „Weitblick“ ausgestrahlt. Die Sendung „Kibeho: Maria spricht in Afrika“ ist anschließend in der Mediathek von KIRCHE IN NOT abrufbar.

Kibeho – Die Muttergottes in Ruanda

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