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Im Libanon ist die Kirche ein Fels für die Menschen

Im Libanon ist die Kirche ein Fels für die Menschen

Interview mit Marielle Boutros

16.10.2023 aktuelles
Der Libanon gehört zu den vergessenen Krisenherden der Welt: Seit Jahren taumelt das Land von einer Katastrophe zur nächsten. Gleichzeitig beherbergt der Libanon nach wie vor die größte christliche Gemeinschaft im Nahen Osten, auch wenn diese durch Auswanderung immer kleiner wird.

Marielle Boutros ist eine junge maronitische Christin. Sie arbeitet als Lehrerin im Libanon und unterstützt die Projektarbeit von „Kirche in Not“ (ACN) im Land. Mit André Stiefenhofer vom deutschen Zweig des Hilfswerks hat sie über die aktuellen Herausforderungen im Libanon und die Rolle der Kirche gesprochen. Das Gespräch wurde vor Ausbruch des Kriegs in Israel geführt. Die Folgen, die dieser für den Libanon und den ganzen Nahen Osten haben wird, sind noch nicht abzusehen, werden aber gravierend sein.

 

André Stiefenhofer(„Kirche in Not“): In welcher Situation befindet sich der Libanon aktuell?

Marielle Boutros: Im Libanon kam es 2019 zum totalen Zusammenbruch aufgrund der langjährigen Korruption, der Geschäftspraktiken der Banken und vieler anderer Faktoren. Die Währung verlor an Wert: Bekam man früher für 1500 Libanesische Pfund einen US-Dollar, muss man heute 19 000 Pfund für einen Dollar bezahlen. Dann ereignete sich am 4. August 2020 die Explosion im Hafen von Beirut. Ganze Stadtviertel wurden zerstört. Seither bricht alles auseinander – auch politisch. Eineinhalb Jahre nach der Parlamentswahl haben wir noch immer keinen Präsidenten und keine Regierung. Die Folgen treffen die Menschen ganz unmittelbar: 80 Prozent der Libanesen leben in Armut. Die Jugend wandert ab, die Migration ist ein harter Schlag für uns. Der Libanon fällt noch immer, wir haben den Tiefpunkt noch nicht erreicht.

Marielle Boutros, Lehrerin und Mitarbeiterin von KIRCHE IN NOT im Libanon.
Erzählen Sie uns etwas über die Lebensbedinungen der Menschen.

Diejenigen, die vor 2019 zur Mittelschicht gehörten, leben jetzt in Armut. Die Gehälter sind immer noch die gleichen wie vor der Krise, aber wie gesagt, das Libanesische Pfund ist jetzt viel weniger wert. Wer vor der Krise ein Gehalt von umgerechtnet 2000 US-Dollar hatte, hat jetzt nur noch etwa 20 bis 30 Dollar zur Verfügung. Allein die Fahrt in die Arbeit frisst das ganze Gehalt auf. Viele Menschen haben ihre Arbeit verloren. Sie leben von ein paar Dollar im Monat und müssen deshalb auf Mahlzeiten verzichten. Kinder müssen ohne Pausenbrot zur Schule gehen. Darum bereiten unsere christlichen Schulen wenigstens ein bisschen Essen zu.

 

Sie haben gesagt, dass viele junge Libanesen angesichts der Krise auswandern. Sie sind selber eine junge Frau. Weshalb haben Sie sich entschlossen zu bleiben?

Ich bin im Libanon geblieben, weil die Kirche dort ist. Die Kirche versteckt sich nicht in Gotteshäusern oder Bischofsresidenzen. Sie ist ist da und sie hilft. Der Libanon hat keine Regierung. Wir haben keinen funktionierenden Staat. Die Kirche ist für uns der wichtigste Bezugspunkt. Die Kirche kämpft dafür, die Menschen mit Lebensmitteln, Medikamenten oder Bildung zu versorgen. Sie begleitet die Menschen durch diese schwere Zeit. Sonst ist niemand für sie da. Ich habe diese starke Begleitung der Kirche selber erfahren, und darum bleibe ich. Es ist meine Berufung, durch die Kirche den Menschen im Libanon zu dienen.

Christliche Jugendliche bei einem lokalen Weltjugendtag im Libanon im August 2023.
Wie hilft die Kirche im Libanon den Menschen konkret?

Die Kirche im Libanon und im ganzen Nahen Osten ist gekennzweichnet durch zwei Aspekte. Sie ist für die Menschen da, wenn sie hungrig oder krank sind oder Bildung brauchen. Die Kirche betreibt viele Einrichtungen, in denen die Menschen Heimat und Geborgenheit finden. Das ist eine wirklich anstrengende Aufgabe. Wenn man in die Gesichter der Priester oder der Ordensschwestern im Libanon schaut, kann man ihre Müdigkeit sehen.

Die andere Seite ist die apostolische Sendung der Kirche: Sie begleitet Menschen seelsorgerisch, sie regt zum Gebet an, sie feiert Gottesdienste und veranstaltet kleine Zusammenkünfte wie in den Tagen der Apostel. Dort lesen die Christen zum Beispiel in der Bibel, am Ende essen sie gemeinsam und teilen ihren Alltag. Die Kirche ist im pastoralen wie im karitativen Bereich präsent und leistet eine erstaunliche Arbeit.

Sie arbeiten als Lehrerin. Wie ist die Situation an den Schulen im Libanon?

Wir haben über 200 katholische Schulen im Libanon. Sie haben eine wichtige Funktion, denn an den öffentlichen Schulen sind die Lehrer wegen der Krise mehrfach in Streik getreten, und die Kinder hatten keinen Unterricht. Deshalb sind die katholischen Schulen im Libanon sehr wichtig, nicht nur für die Christen. Auch viele muslimische Eltern schätzen unsere Arbeit. Die Kinder lernen den Glauben kennen, und im Miteinander wächst auch die Toleranz. Doch jetzt sind die Schulen in einem regelrechten Teufelskreis: Die Eltern können die Schulgebühren nicht mehr bezahlen, staatliche Unterstützung gibt es keine. Die Schulen können aber ohne diese Einnahmen den Lehrern keine Gehälter zahlen. Hinzu kommen die laufenden Kosten. Um diese Lücke zu schließen, brauchen wir Hilfe aus dem Ausland. Sonst können wir die katholischen Schulen nicht weiter betreiben. Und die Folge wäre: Viele islamistische Einrichtungen warten darauf, in diese Lücke zu springen. Dann würden die Kinder ideologisch indoktriniert, und das würde zu noch mehr Extremismus führen.

Mutter mit Kind in der kirchlichen Suppenküche in Zahlé in der Bekaa-Ebene
Wie lässt sich dieser Teufelkreis aufhalten?

Hilfen wie die von „Kirche in Not“ sind für uns essenziell. Nur so können wir die Lehrer bezahlen, Strom und Heizkosten decken und so weiter. Ein aktuelles Projekt ist zum Beispiel, dass wir Solaranlagen auf die Schuldächer montieren, um somit autark zu werden und die Stromkosten zu senken. Das sind Schritte, die den Kindern im Libanon zugutekommen: Weil an vielen öffentlichen Schulen gestreikt wird, drohen drei Millionen Kinder ohne Bildung aufzuwachsen. Wir können viele von ihnen an den katholischen Schulen aufnehmen. Die Christen erfüllen hier ein wichtige Aufgabe für den ganzen Libanon.

Ein weiterer Schwerpunkt der Hilfe ist die Bekaa-Ebene im Osten des Libanon an der Grenze zu Syrien. Warum hat dieses Gebiet gerade auch für die Christen eine so hohe Bedeutung?

Die Bekaa-Ebene ist umgeben von libanesischen Milizen und muslimischen Fanatikern. Die Christen, die sich dort noch aufhalten, leben in einer sehr schwierigen Situation, weil es um sie herum eine „versteckte Unterdrückung“ gibt. Die Präsenz der Christen, die besonders in den Städten Zahlé und Baalbek leben, ist ein wichtiges Statement für den Libanon und den Nahen Osten.

Mutter mit Kind in der kirchlichen Suppenküche in Zahlé in der Bekaa-Ebene
Wie lässt sich dieser Teufelkreis aufhalten?

Hilfen wie die von „Kirche in Not“ sind für uns essenziell. Nur so können wir die Lehrer bezahlen, Strom und Heizkosten decken und so weiter. Ein aktuelles Projekt ist zum Beispiel, dass wir Solaranlagen auf die Schuldächer montieren, um somit autark zu werden und die Stromkosten zu senken. Das sind Schritte, die den Kindern im Libanon zugutekommen: Weil an vielen öffentlichen Schulen gestreikt wird, drohen drei Millionen Kinder ohne Bildung aufzuwachsen. Wir können viele von ihnen an den katholischen Schulen aufnehmen. Die Christen erfüllen hier ein wichtige Aufgabe für den ganzen Libanon.

Wie hilft „Kirche in Not“ in dieser christlichen Enklave?

„Kirche in Not“ unterstützt vor allem die Seelsorge: Sommercamps für christliche Kinder und Jugendliche, Exerzitien für junge Menschen, Mess-Stipendien für Priester. Die Kirche betreibt auch eine Suppenküche in Zahlé. Sie versorgt syrische Flüchtlinge, aber auch Libanesen, die aufgrund der Krise verarmt sind. Es gehen auch Hilfen an Ordensschwestern, die in der Region eine großartige Arbeit leisten – und natürlich auch wieder an die christlichen Schulen, um dem Fanatismus keine Chance zu geben.

Was können Sie aus Ihrer Erfahrung der Kirche im Westen mitgeben?

Vielleicht kann ich es mit einem Zitat Jesu sagen: „Marta, Marta, du macht dir viele Sorgen und Mühen – Maria hat den guten Teil gewählt.“ Es geht nicht darum, den Dienst für andere aufzugeben, sondern uns auf den Weg wie Maria zu begeben: hinzuhören, was Gott jetzt von uns will. Die wichtigsten Werkzeuge dafür sind die Bibel und die Feier der Euchariste. Im Libanon haben wir viele Missionen, in denen die jungen Leute in die Cafés gehen und über den Glauben sprechen. Wir besuchen auch viele einsame Menschen. Dafür müssen wir unsere Komfortzone verlassen. Ich sehe und erlebe den Wandel in der Kirche. Aus meiner Erfahrung im Libanon kann ich sagen: Der Wandel kann uns stark machen, wenn wir bereit sind, auf die Menschen zuzugehen und einen Raum zu schaffen, in dem die Menschen durch uns die Güte Gottes entdecken.

Gebets- und Solidaritätstag für die Weltkirche in Augsburg